Ein Sechzehnjähriger zieht
freiwillig in den Großen Krieg

Das ist die Geschichte von einem 16jährigen Gymnasiasten, der im Oktober 1914 freiwillig
mit 2.789 Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren von Dresden aus in den Krieg zog.

Zuerst ein kleiner Geschichtsexkurs.

Im August 1914 herrschten hochsommerliche Temperaturen im Deutschen Reich. Es war aber auch politisch ein heißer August, denn die Welt war seit dem Attentat von Sarajewo aus den Fugen geraten. Die Menschen in den beteiligten Staaten wurden durch Sondermeldungen, Verlautbarungen in Zeitungen und mit Plakaten auf einen notwendigen Krieg eingestimmt. Die jeweiligen Gegner wurden auf schlimme Art und Weise verteufelt, diffamiert, herabgewürdigt. Alle hielten sich für die Angegriffenen. Der Glaube an eine Einkreisung durch die Staaten der Entente machte sich in Deutschland breit. Frankreich wollte die Schmach von 1870/71, den Verlust von Elsaß-Lothringen, ein für allemal tilgen.
In Großbritannien wurden die Deutschen bald als Hunnen bezeichnet, die man abwehren und vernichten müsse. Dabei griff man auf einen Ausspruch des deutschen Kaisers von 1900 zurück.*8
Wilhelm II. und sein Kanzler, von Bethmann-Hollweg, verkündeten die Generalmobilmachung. An allen Litfaßsäulen prangte diese als Proklamation.
Seit dem 3. August befand sich nun das Deutsche Reich im Kriegszustand mit Frankreich, Rußland und Großbritannien.
Ein schier unvorstellbarer Kriegstaumel hatte große Teile der deutschen Bevölkerung erfasst. Da enteilte der Geselle dem Meister, da verließen Studenten die Hörsäle und Seminare (mancherorts von den Professoren animiert und begleitet), da ließen Kaufleute ihre Geschäfte hinter sich, da verließen Arbeiter die Werkbänke und da bedrängten Gymnasiasten ihre Eltern, sie doch in den vaterländischen Krieg ziehen zu lassen. Bei vielen war es echte Begeisterung, sich im Kampf bewähren zu können, bei anderen eine Ritterromantik, gespeist durch eine am realen Leben vorbeigehende Sehnsucht nach einem Kampf Mann gegen Mann als Bewährung. Die deutschen Patrioten waren sich gewiss, mit einer unschlagbaren Armee in einen kurzen Krieg zu ziehen.

Der Ausbruch des 1. Welkrieges verwandelte die Deutschen in ein „Volk von Dichtern“. Tausende beteiligten sich an dieser poetischen Mobilmachung. F. Keil widmete diese naiv-treuherzigen Verse seinem 1914 gefallenen Sohn. Der Text illustriert mit einem simplen Stil die Aufbruchstimmung dieser Zeit.

Sie kamen von allen Seiten Ihr seid gar wohl gerüstet
aus jedem Haus und Stand, mit gutem Kampfgewehr,
sie wollten alle mitstreiten von Liebeshand umbrüstet
im Kampf ums Vaterland. mit einem Blumenmeer.

In der Begeisterung Flammen: So zieht nun denn von dannen!
„des Warten muß haben ein End'!“ Noch einen letzten Gruß!
So traten sie zusammen Auf Wiedersehen ihr Mannen,
zum neuen Regiment. bei frohem Friedensschluß!
Wie aber, wenn von allen kaum einer wiederkehrt?
Fürs Vaterland gefallen ist auch ein Leben wert.

In der Residenzstadt Dresden standen die künftigen Krieger in langen Reihen stundenlang vor dem Bezirkskommando in der Marschnerstraße, um Aufnahme in eines der neu aufgestellten Infanterie-Ersatzregimenter zu finden.
So war der 55jährige Rektor der Meißner Fürstenschule, Prof. Dr. Poeschel, gleich mit fünf Lehrern und einer größeren Gruppe von Primanern angetreten, um mit glühenden Eifer in die sächsische Armee aufgenommen zu werden. Das ist nur eins von vielen Beispielen, wie verblendete Jünglinge, Männer und sogar Greise zu den Waffen greifen wollten, um den Erbfeind Frankreich, das perfide Albion*2 und das morsche Russische Reich in die Knie zu zwingen.
In diesen Kreis fügten sich zwei verschüchtert wirkende Soldaten in schlotteriger Montur mit voller Ausrüstung auf dem Hof der Dresdner Grenadierkaserne ein. Auf den Stoffüberzügen der Pickelhauben steht die Nummer 241. Einer von ihnen, links stehend, war der 16jährige Gymnasiast Reinhold Wildenhayn aus Blasewitz, einem Villenvorort von Dresden.
Der stämmige Junge entstammte gutbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war ein pensionierter deutsch-national denkender Fabrikdirektor, der vor einigen Jahren mit einem Teil seiner Familie in Blasewitz sesshaft wurde. Ein Sohn der Familie, Walter, 31 Jahre alt, diente bereits als Offiziersanwärter im Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 107 an der Westfront. Die 27jährige Schwester Hilda wurde schließlich Mitarbeiterin der deutschen Militärverwaltung in Brüssel.
Reinhold W. wuchs als Nachzügler, betreut und umhegt von seinen erwachsenen Schwestern und einer „Gesellschafterin“, in einem gediegenen Haushalt auf.
Sein bereits 73jähriger Vater erteilte ihm ohne Bedenken die Erlaubnis zum Eintritt in die Armee. Lediglich dem ältesten Bruder Paul war der Waffengang verwehrt, litt er doch an einer chronischen Herzkrankheit.
Das waren teilweise chaotische Tage, ehe diese bunt zusammengewürfelte Truppe uniformiert und voll ausgerüstet worden war. Es fehlte zunächst an Uniformen, Schuhen, Brotbeuteln und anderen notwendigen Ausrüstungsgegenständen. Aber dann empfingen sie im Arsenal ihre neuen Gewehre. Der 31. August 1914 war der Geburtstag dieser problematischen Militärformation, bei der zwei Drittel der Mannschaften Freiwillige waren, und die Offiziere meist ältere Herren ohne einschlägige Erfahrungen.
Der Soldat Reinhold Wildenhayn wurde mit der 5. Kompanie von bärbeißigen und schnauzenden Unteroffizieren und Feldwebeln gedrillt. Untergebracht in der Dresdner Grenadierkaserne, exerzierten sie auf dem Alaunplatz, und in der Dresdner Heide wurde geschossen. Die Kompanien rückten am 1. und 2. Oktober zu Schanzübungen auf den Kaditzer Flugplatz aus. Am 4. wurde die Feldmunition empfangen, und am 7. und 8. Oktober erfolgte die letzte und größte Übung in Verbindung mit der Artillerie.*3 Er machte mit der 5. Kompanie eine kurze und von Hektik bestimmte Ausbildung durch.

Bruder Rudolf, der seit Jahren als Ingenieur in den USA lebte, schickte ihm eine aufmunternde Postkarte mit dem ausdrücklichen Wunsch, kräftig auf die Franzmänner dreinzuschlagen, das sei er doch dem Regiment*6 schuldig, bei dem er selbst als Einjährig-Freiwilliger gedient hatte. Es ist unbekannt, ob diese Nachricht den jugendlichen Krieger jemals erreicht hatte.

In Paradeuniform trat die 5. Kompanie zum Fotografieren an, und dann harrten die
241er ungeduldig und voller Tatendurst der Fahrt an die Front.

5. Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments 241 Dresden Sept.(?) 1914

Das letzte Wecken, die letzte Aufstellung, die letzte Ansprache, und dann marschierten die Bataillone unter den Klängen von „Preußens Gloria“ zum Neustädter Bahnhof...Es war eine unvergeßliche Stunde. Im gleichen Schritt und Tritt zogen junge, kräftige Gestalten neben bärtigen Landsturmmännern, lauter hoffnungsfrohe Gesichter, die Brust mit Blumen geschmückt. Am Straßenrand stand manch alter Vater mit kummervollem Herzen, aber stolz auf seinen einzigen Sohn...Ein Rufen, ein Winken, ein Singen: Deutschlands jüngste Soldaten ziehen in das Feld!...*3

Am 11. Oktober wurden die 2.717 Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere auf Dresdner Bahnhöfen – Neustadt und Friedrichstadt – verladen. Mannschaften und Unteroffiziere zwängten sich in die 4. Klasse, die Offiziere reisten komfortabler. Der Marsch zu den Bahnhöfen glich einem Triumphzug. Die mit Blumen geschmückten Soldaten wurden zudem mit Liebesgaben-Paketen versorgt. Die Menschenmenge stimmte vaterländische Lieder an, es herrschte ein unvorstellbarer Jubel. In den Abendstunden erschien dann noch der sächsische König mit seinen Töchtern auf dem Neustädter Bahnhof und verabschiedete huldvoll das III. Bataillon. Schneidig kommandierte der Herr Hauptmann ... die da auszogen, waren keine Paradesoldaten, die Kleinen kamen nicht nach, es klappte eben nicht. Lächelnd dankte der königliche Kriegsherr...*3. Die Eisenbahnwagen waren mit frischen Birkengrün geschmückt. Die Kapelle spielte „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus.“
Die viertägige Eisenbahnfahrt des Regiments ging quer durch Deutschland mit den Stationen Chemnitz, Reichenbach, Plauen, Hof, Kulmbach, Bamberg, Würzburg, Frankfurt. Von Trier ging dann die Fahrt hinein nach Belgien. Nachts fuhr der Zug ohne Licht – nach stundenlangen Unterbrechungen ging es dann weiter über Namur, Charleroi nach Ath, einem damals kleinen unscheinbaren Ort in Belgien. Das zuletzt kaum verpflegte Reserveregiment war im Feindesland angekommen. Die euphorische Stimmung war einem gedämpft skeptischen Optimismus gewichen.
Noch in der Nacht begann der Marsch der Bataillone auf den durchweichten Straßen Flanderns, oftmals ohne die nötige Orientierung. Da noch kein Feind zu sehen war, wurden versehentlich im Übereifer und aus Angstgefühlen heraus Personen kurzerhand als Franktireurs*7 verdächtigt und manchmal auch exekutiert.
Bis zum 20. Oktober marschierte das Regiment gegen den Feind, hatte schließlich seine „Feuertaufe“, dabei erhebliche Verluste und zudem Ausfälle durch fußkranke und total erschöpfte Soldaten, die den physischen Belastungen kaum gewachsen waren.
Die Bataillone des 241. Reserve-Infanterie-Regiments standen englisch-französischen und belgischen Heeresverbänden gegenüber, konnten sich trotz gewaltiger Verluste kurze Zeit behaupten, mussten sich aber bald eingraben, um vor den Schrapnells und dem Maschinengewehrfeuer sicherer zu sein. Die Front war bereits aufgerissen, es gab keinen Flankenschutz mehr. Die Bataillone waren bald auf Kompaniestärke geschrumpft. Reserven gab es nicht. Der Regimentskommandeur, Oberst Graul, gab in dieser fast aussichtslosen Lage den Rückzugsbefehl. Das blutige Ringen um Ypern war für die 241er vorerst zu Ende.
Noch bis zum 12. November blieben die Einheiten des Regiments am und vorm Feind. Artillerieüberfälle, schlechte oder gar keine Verpflegung, Nässe und Kälte und schließlich Hoffnungslosigkeit verringerten zum einen die Kampfkraft, führten zum anderen zur allmählichen Ernüchterung. Sie waren kaum im Gleichschritt mit gefälltem Bajonett und dem Absingen patriotischer Lieder auf die feindlichen Linien gestürmt. Die Legende machte den belgischen Ort Langemarck*5, auf dessen Feldern das massenweise Sterben stattfand, zu einem Mythos über ein vermeintliches Heldentum deutscher Soldaten in einem fremden Land.
An dieser Stelle soll ein Gedicht des Arztes und Lyrikers Georg Hecht — er fiel 1915 in Frankreich — stehen.

Leichnam

Schon war das Hindernis von Leichen
Übersprungen, da traf die Stirn das Blei.
Er brach im Kreuz zusammen, ohne Schrei,
Hintüber, zuckte kaum. Auf Seinesgleichen
Lag er, vor ihm fielen eben andere drei,
So dass sein Fuß in ihren Weichen
Sich verhenkte, und er, ein aufrecht Zeichen,
Steckend stehen blieb. Die Arme waren frei
Und halb erhoben aus der Lache
Von Blut und Erde, fest in steter
Andachtsübung der antiken Beter
Zeugend Wort und Sinn der fremden Sprache.
*1

Diese Momentaufnahme des Tötens*1 wurde von Hecht auf einer Feldpostkarte festgehalten. Die kühl-sachliche Schilderung des grauenhaften Vorgangs illustriert eindrucksvoll das sinnentleerte Sterben an den Fronten des 1. Weltkrieges.
Ein Zeitgenosse, er war Soldat des 241. Reserve-Infanterie Regiments, berichtete:
... 2 Offiziere und 120 Mann vom Regiment 241 trafen am 19. November in den frühen Morgenstunden im Ruhequartier ein. Das war der Rest des stolzen Regiments, das vier Wochen vorher mit einer Gefechtsstärke von 72 Offizieren und 2.717 Unteroffizieren und Mannschaften in den Kampf gezogen war.*3
Reinhold Wildenhayn gehörte nicht zu diesem Rest. Er geriet in den nachfolgenden Kämpfen im Dezember 1914 unversehens und unverletzt in französische Gefangenschaft. Ein anderer Teil des Regiments wurde von englischen Truppen gefangen genommen und auf die britische Insel nach Leeds gebracht. Die Heeresberichte dokumentierten zwar die Verluste, einschließlich der Vermissten, aber über in Gefangenschaft geratene Soldaten gab es wenig Informationen.
Er hatte überlebt, und es war eigentlich ein glücklicher Umstand, dass der mangelhaft ausgebildete Schülersoldat, ohne den furchtbaren Grabenkrieg in Flandern mitgemacht zu haben, nun einen weniger lebensgefährlichen Tagesablauf durchlebte. Jetzt ist er der Kriegsgefangene mit der Nummer 11.010. Aber er ist mit knapp siebzehn Jahren von jeglicher persönlicher Entwicklung abgeschnitten. Er muss sich als PG, Prisonnier de guerre*8 gekennzeichnet, mit einem Leben hinter dem Stacheldraht einrichten. Der junge Mann ist auf sich selbst gestellt, muss Arbeiten verrichten, die ihm früher die Mutter, Dienstboten und Geschwister abgenommen hatten.
Die Jahre bis 1919 sind voller Entbehrungen und enttäuschter Hoffnungen. Im Juni1915 hatte sich der sächsische König gewogen gefunden, dem Kriegsgefangenen Reinhold Wildenhayn die Friedrich-August-Medaille in Bronze mit dem Bande für Kriegsdienste zu verleihen. Diese Auszeichnung diente der Kriegspropaganda. denn der Ausgezeichnete hat sie nicht persönlich in Empfang nehmen können.
Der junge Kriegsgefangene versuchte, mit zwei Kameraden der Gefangenschaft zu entkommen, wurde eingefangen und nach Nordfrankreich auf die Halbinsel Quiberon gebracht. Dort, im Fort Pienthièrve an der bretonischen Küste, verbrachte er die nächsten Monate.
Die Gruppenaufnahme aus dem Gefangenenlager Pientièvre/Kherhostin zeigt Reinhold Wildenhayn (unauffällig im Hintergrund) im Kreise von etwa 30 Kriegsgefangenen bei einer Arbeitspause. Trotz der martialisch posierenden Wachsoldaten mit den aufgepflanzten Bajonetten wirkt das Bild friedlich, fast wie eine Idylle mitten im Krieg. Verstärkt wird der Eindruck durch die auf Felsen lagernden französischen Zivilisten, darunter eine Frau mit ihren Kindern.


Arbeitspause im Gefangenenlager Penthièvre-Kherhostin (Bretagne)

Die zweite Station seiner Gefangenschaft war das Lager Lambel-Camors, in der westlichen Bretagne. Im August 1915 entstand diese Gruppenaufnahme, wobei der fast zivile Habitus der französischen Bewacher auffällt.
Die schriftlichen Nachrichten über die Jahre 1915 und 1916 gingen leider verloren.

Gefangenenlager Lambel-Camors (Bretagne), Soldat Wildenhayn, mittlere Reihe, erster von links )

Im Januar 1917 teilte er seinen Eltern mit, dass er nun nach Annebault-Dozul é bei Caen in der Normandie gebracht worden war.
Im Monat Juni 1918 meldete sich der nunmehr 20jährige Reinhold W. aus Crissé bei Le Mans in einem Brief in die Heimat und legte eine Fotografie bei (der Brief ging leider später verloren).
Reinhold hatte sein Schulfranzösisch im Selbststudium verbessert und hatte gute Kenntnisse in der Mathematik, so dass er den deutschen Unteroffizieren und Feldwebeln bald verschiedene Verwaltungsaufgaben abnehmen konnte. Er war als Gefangener schon ein „alter Hase“ mit vielen Erfahrungen des Lageralltags. Zuweilen fungierte er auch als Sprachmittler beim Kontakt mit den Franzosen.

Im Lager Crissé bei Le Mans im Juni 1918, Reinhold Wildenhayn oben rechts

In allen Gefangenenlagern wurden die Deutschen zu bestimmten Arbeiten befohlen, zudem oblag den Gefangenen die Organisation des Lagerlebens.
Nur drei mit Bleistift geschriebene Briefe von Reinhold Wildenhayn an seine Eltern haben die Zeiten überdauert.
Am 7. Juli 1918 schrieb er einen Brief nach Dresden. Über die in der Schweiz tätige Gefangenen-Hilfsorganisation Pro Captivis erhielt er Päckchen und sogar Geldsendungen, für die er sich bedankte. Er schrieb u.a. Über die Geburtstagswünsche habe ich mich sehr gefreut. Nur schade, dass der beste, ihn zu Hause feiern zu können, nicht in Erfüllung gegangen ist. Mit dem Austausch wird es wohl noch eine gute Weile dauern; man hört hier gar nichts davon.
Er ist immer noch in Le Mans. Mit dem Datum 15. September 1918 ging eine erneute Nachricht an seine Eltern ab: Wenn ich nun endlich nach Hause käme, würde ich Euch viel Arbeit abnehmen können... Diejenigen, die gleich zu Anfang des Krieges gefallen sind, sind zu beneiden... In meinen Träumen bin ich jetzt sehr viel zu Hause und dann morgens finde ich mich zu meinem grössten Bedauern wieder hier.
Neben Lebensmitteln versorgte die Familie Reinhold W. auch mit Büchern, vor allem Fachliteratur und auch Belletristik, so dass er sich einiges Wissen anlesen konnte. Hinzu kommt, dass die Gefangenen mitunter auch mit Zeitungen versorgt wurden. In vielen Lagern entstanden schon bald von den Gefangenen herausgegebene Lagerzeitungen; sie dienten der Dokumentation der eigenen Tätigkeit für die Angehörigen in der Heimat und der Erinnerung für die Zeit nach Kriegsende. Erstaunlich ist, dass der Akt der Gefangennahme kein Thema war, fühlten sich doch die Gefangenen offensichtlich als Soldaten zweiter Klasse.

in Le Mans, Juni 1918

Die Mutter Anna Wildenhayn beklagte in einem Brief, geschrieben am 24. Dezember 1918(!) an ihre Geschwister, die schwierige, fast hoffnungslose Lage ihrer Familie:
Der Vater liegt krank darnieder, von den in den USA lebenden Söhnen gibt es keine Nachrichten, die in die Jahre gekommenen Töchter finden keine Männer, Sohn Walter dient seit 1914 an der Westfront (zweimal verwundet) und der Jüngste lebt seit Jahren als Kriegsgefangener in Frankreich. Das beachtliche Vermögen des Vaters ist gefährdet oder gar verloren, war es doch einst in sicheren russischen Eisenbahnaktien und in österreichischen Wertpapieren angelegt worden.*
Noch einmal lässt sich Reinhold W. im Juni 1918 in Le Mans fotografieren, das Bild mit einer Nachricht erreichte die Eltern am 14. August 1918.
Am 3. August 1919 – Reinhold wurde weiter in Richtung Osten, nach Reims, verlegt – schreibt der gehorsame Sohn an seine Eltern: Von den an mich abgesandten Paketen ist leider nur eins eingetroffen. Von den Geldsendungen scheinen keine zu fehlen...Mit unserer Auslieferung wird immer noch kein Ernst gemacht, trotz der vielen Versprechungen. Leider sind auch die Verhandlungen über die Zivilarbeiter, die an unserer Stelle erscheinen sollen, ins Wasser gefallen ... Also sind die Aussichten auf eine baldige Rückkehr mau, sehr mau ...sollten wir Weihnachten noch nicht zu Hause sein, so vergesst bitte nicht, mir ein recht schönes Fresspaket mit einem kleinen Weihnachtsbäumchen zukommen zu lassen.
Ende Dezember 1919, der problematische Versailler Vertrag regelte u.a. die Rückführung der etwa 425.000 Gefangenen und Zivilisten, wurde auch Reinhold Wildenhayn aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Nach tagelanger Bahnfahrt traf er endlich in Dresden ein. Er war 21 Jahre alt, hatte keinen höheren Schulabschluss und keinen Beruf. Der Vater war am 26.12.1919 in Dresden gestorben, ohne seinen jüngsten Sohn wieder gesehen zu haben.
Die Kriegsheimkehrer erhielten einen bescheidenen Geldbetrag und konnten sich bei Bedarf gespendete Kleidung über Hilfsorganisationen besorgen.
Der intelligente und hochmotivierte junge Mann erwarb in Seminaren das nötige Wissen, bewarb sich dann an einer sächsischen Ingenieurschule und war, nachdem er sich u.a. als Straßenbahnschaffner und Dienstmann fehlende Geldmittel verdient hatte, Ingenieur für Kältemaschinen.
1928 und 1929 waren Krisenjahre; der junge Ingenieur fand keine Arbeit, so dass er als unbezahlter Volontär in einer Chemnitzer Firma arbeitete. Bei einer Kesselexplosion verätzten die austretenden Dämpfe die Netzhaut seiner Augen, alle Hilfe kam zu spät, Reinhold Wildenhayn verlor sein Augenlicht, er blieb auf beiden Augen blind. Den Weltkrieg hatte er unbeschadet überstanden – aber nun? Die Chemnitzer Firma Germania zahlte keine Entschädigung, war doch der junge Ingenieur nicht vertraglich an den Betrieb gebunden.
Seine langjährige Freundin, eine Lehrerin aus Frankenberg, heiratete den Blinden. Eine kleine Erbschaft, damit wollte er eigentlich in die USA ausreisen, wurde nun zum Kauf eines Grundstücks und dem Bau eines einfachen Hauses verwendet.
Der Blasewitzer Architekt Erich Seefluth entwarf ein Haus im Bauhausstil. Die äußerst sparsame Bauweise – im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kamen fachfremde Arbeitskräfte zum Einsatz – hatte zur Folge, dass jahrelang Bausünden ausgebessert werden mussten. Die fast spartanische anmutende Einrichtung entsprach den Bedürfnissen und Möglichkeiten des blinden Ingenieurs und seiner Ehefrau.
Häufig besuchte ich in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren den blinden Herrn, er stand mir als jüngster Bruder meiner 1930 verstorbenen Großmutter sehr nahe. Er, der sonst sehr sparsam war, schenkte mir ein Paar braune Schnürschuhe als Arbeitsschuhe. Die rissigen, mit eisernen Noppen beschlagenen französischen Militärstiefel, Jahrgang 1917, hielten aber nur wenige Wochen die Belastungen meines Baustellen-Arbeitsalltags aus.
Reinhold Wildenhayn, der sich mir gegenüber nur vage über seine Jugendjahre in Frankreich geäußert hatte, war aber sein Leben lang von diesen Erfahrungen geprägt. Sparsamkeit, Bedachtsamkeit und das Bestreben nach einer fast allumfassenden Bevorratung des Zweipersonenhaushalts waren seine Lebensmaximen.
Noch einmal wurde er an seine kurze (aktive) Militärzeit bei den 241ern erinnert, als er 1935 vom Dresdner Polizeipräsidenten (im Auftrag des Führers*4) das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen bekam. Die fragwürdige Wertschätzung der alten Kämpfer durch das NS-Regime diente der geistigen Vorbereitung auf einen neuen Krieg. Bereits 1933 hatte Adolf Hitler auf einer Veteranentagung in Hamburg allen ehemaligen Kriegsgefangenen den Frontkämpferstatus offiziell zugebilligt.
Der blinde Mann legte wenig Wert auf die fragwürdigen Ehrungen der braunen Herrscher. Der Propaganda der Nazis stand er abwartend-konzilant gegenüber.
Er besserte in den dreißiger Jahren das bescheidene Gehalt seiner Ehefrau durch Einkünfte als Vertreter für Schlesische Kohle auf. Dem blinden und immer freundlichen Herrn kaufte man wohl offensichtlich gern die hochwertige Kohle ab. Er hatte sich sein Leben organisiert, war viel unterwegs, kannte viele Menschen und viele kannten ihn. So machte er nach außen hin einen zufriedenen und fast glücklichen Eindruck. Seine Umgebung hatte sich auf ihn eingestellt, duldete seine Macken, seine Absonderlichkeiten, doch das zweifache Trauma konnte er wohl zu keiner Zeit ganz überwinden.
Den zweiten, noch viel verheerenderen Krieg mit den furchtbaren Angriffen auf Dresden hatte das Ehepaar mit überschaubaren Schäden überstanden.
In Westdeutschland lebende ehemalige Kameraden unterstützten ihn über Jahre hin großzügig mit im Osten Deutschlands begehrten Artikeln.
Mit Hilfe der bald erlernten Brailleschen Blindenschrift notierte er verschiedene Gedanken, verfasste auch Schüttelreime, die leider später verloren gingen. Er besaß auch eine herkömmliche Schreibmaschine, die durch Überzüge auf den Tasten dem Blinden das Maschineschreiben ermöglichte.
Vorleseabende mit Freunden des Ehepaars, Schallplattenstunden mit klassischer Musik, Theater- und Opernbesuche bereicherten die Mußestunden des kinderlosen Ehepaars.
Vier Jahre nach seiner Ehefrau, starb Reinhold Wildenhayn 1980 nach kurzer Krankheit in seinem Loschwitzer Heim auf dem Veilchenweg in Dresden.

Zum Text:

Das Einrücken zum 241. Infanterie Reserve Regiment, die überhastete Ausbildung, die Fahrt an die belgisch-französische Front, die unglückseligen Kampfhandlungen und schließlich der Untergang des Regiments habe ich der Dokumentation von Paul Knoppe entnommen (siehe Register*3). Von der völkisch-nationalistischen Gedankenwelt dieses mit einem Hitlerzitat eingeleiteten Buches möchte ich mich ausdrücklich distanzieren.

Anhang/ Register

*1 Das Gedicht wurde einem Aufsatz von Manfred Koch, veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25.1.2014, entnommen.

*2 perfides Albion, Begriff der antibritischen Propaganda (Albion, im antiken Sprachgebrauch: britische Inseln). Der Ausdruck wurde oft für die angeblich hinterhältige englische Außenpolitik gebraucht.

*3 Zitat aus Paul Knoppe, Die Geschichte des Königlich Sächsischen Reserve-Infanterie-Regiment 241, Verlag der Baensch-Stiftung, Dresden 1936

*4 Adolf Hitler, nationalsozialistischer Politiker, 1933 – 1945 Reichskanzler

*5 Langemarck, Ort in Belgien, nördlich von Ypern, in dessen Nähe ein verlustreicher Durchbruchversuch des XXIII. Reservearmeekorps mit über 2000 Toten stattfand. Das militärische Debakel wurde durch die Militärpropaganda zum „Mythos von Langemarck“ glorifiziert.

*6 Hier wird auf das in Dresden stationierte Leibgrenadier-Regiment Nr. 100 Bezug genommen, das den Kern des neuen Reserve-Regiments 241 bildete.

*7 Franktireur, französische Freischärler

*8 Hunnen; in der englischen Kriegspropaganda herabwürdigende Bezeichnung für Deutsche. Das beruht auf einer Rede Kaiser Wilhelms II. in Bremerhafen bei der Verabschiedung des Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxeraufstandes im Juli 1900. Aus der Rede: Pardon wird nicht gegeben...Gefangene werden nicht gemacht...Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel...

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